Analphabetismus trotz Schulpflicht? Wie geht denn DAS?

Wenn ich im Bekanntenkreis von Analphabetismus erzähle, merke ich, dass viele wie selbstverständlich davon ausgehen, dass es sich bei Betroffenen eigentlich nur um Migranten handeln kann. Schließlich haben wir ja die Schulpflicht, so dass nach dem Schulbesuch jede/r lesen und schreiben kann. Neuerdings ergänze ich daher immer schnell: "Mehr als die Hälfte der funktionalen Analphabeten (genau: 58%, d.h. 4,4 Mio. Menschen) haben Deutsch als Erstsprache gelernt und es gibt durchaus auch funktionale Analphabeten mit höherer und mittlerer Reife." Dann wird ungläubig geschaut. Tatsächlich kann man sich nur schwer vorstellen, wie man ein Abitur mit Lese- oder Schreibschwächen bestehen kann. (Die leo-Newsletter vom März und April informieren über funktionalen Analphabetismus trotz höherer Bildung.) Und schon bin ich im Erklärungszwang: "Wie kann denn das möglich sein - trotz Schulpflicht kaum lesen und schreiben können?"

Diese Frage ist nun leider extrem komplex. Wie gerne würde ich zwei, drei pointierte Sätze hinschmettern, woraufhin mein Gesprächspartner/in "Ahhhh!" sagt und damit seinen/ihren Geistesblitz und Verständnis zum Ausdruck bringt. Nur so einfach ist es nicht. Ursachen sind schwer fassbar und individuell sehr unterschiedlich:
  • Kinder kommen im Elternhaus nur selten mit Lesen und Schreiben in Berührung.
  • In der Zeit, in der die Grundlagen für Lesen und Schreiben gelegt werden, kommen die Kinder nicht mit - Nachholen wird ohne zusätzliche Förderung immer schwieriger.
  • Die Lehrer sind in überfüllten Klassen mit 30 und mehr Schülern überfordert und merken nichts, auch nach dem Motto: "Was nicht sein kann, gibt es nicht."
  • Individuelle Förderung kann auf Grund der geringen personellen Besetzung an Schulen nicht stattfinden. 
  • Betroffene haben eine ausgeprägte Fähigkeit entwickelt, ihre Schwäche zu verstecken (z.B. auswendig lernen).
  • Freunde machen die Hausaufgaben für sie; ihre guten mündlichen Leistungen gleichen die schlechten schriftlichen aus.  
  • Lehrer drücken ein Auge zu - auch aus dem Gedanken heraus, dem Betroffenen die Zukunft nicht verbauen zu wollen.
  • Durch mangelnde Praxis (aber auch Krankheiten, z.B. Schlaganfall) kann einst Gelerntes auch wieder vergessen werden (das erklärt z.B. diejenigen funktionalen Analphabeten mit einem höheren Schulabschluss).