Happy Birthday, ZusammenLernen!

ZusammenLernen ist heute ein Jahr alt geworden und hat eine Kerze angezündet bekommen.

Was mehr als ein Notizblock für mich selbst begann, hat nun eine richtige Fangemeinde bekommen. Grund genug also, euch und Ihnen allen fürs Lesen, Verlinken und Weitersagen zu danken!

Unbelehrbar...

"Unbelehrbar", ein Film der Regisseurin Anke Hentschel über den Wunsch einer Frau, lesen und schreiben zu lernen.
 Unbelehrbar - wer ist das eigentlich? Die Protagonistin, die nicht lesen und schreiben kann? Oder ist es ihre Familie, die ihre Frau und Mama in ihrem Lernwunsch nicht unterstützt, sondern gegen sich gegen die Veränderung stellt? Oder ist es nicht im weitesten Sinne die Gesellschaft, die immer wieder kleine und große Steine in den holprigen Lernweg einer Lese- und Schreibschwachen wirft?

Aber fangen wir von vorne an. In dem Film geht es um Ellen, eine 40-jährige Brandenburgerin, die lesen und schreiben lernen möchte. Weil in ihrer lokalen Volkshochschule kein Kurs angeboten wird, macht sie sich gegen den Willen ihrer Familie auf den Weg in die Hauptstadt und in ein Leben mit der Schriftsprache. Dabei tun sich jede Menge Schwierigkeiten auf, doch Ellen kämpft, von einer inneren Notwendigkeit getrieben und bis in die letzte Konsequenz...

Der Film wurde am Samstag im Rahmen des Filmfestivals für Menschenrechte und Medien, One World Berlin, gezeigt und anschließend in einer Podíumsdiskussion besprochen. Dabei waren Peter Neumicke, Lerner, Dr. Eva-Maria Bosch, Leiterin des Referats "Lebenslanges Lernen, Weiterbildung, politische Bildung" des Brandenburgischen Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport, und die Regisseurin Anke Hentschel; die Moderatorin übernahm Bettina Hildebrand, Deutsches Institut für Menschenrechte.

Ein paar Punkte aus der Diskussion:
Die große Mehrheit der funktionalen Analphabeten versteckt sich - und schafft es, sich zu verstecken, wie Frau Hentschel betonte, weil sie sich als als ausgesprochen kluge und kreative Menschen Kompensationsstrategien haben einfallen lassen. Das sollte und muss anerkannt werden. Lerner/innen können von schriftsprachlichen Menschen lernen, aber genauso können "Schriftsprachler" von der Kreativität und Gewitzheit von Lese- und Schreibschwachen lernen. Ein Geben und Nehmen bringt allen Beteiligten etwas.

Eine Zuschauerin, die in der Entwicklungshilfe arbeitet, zeigte sich entsetzt von den Zahlen zum funktionalen Analphabetismus (7,5 Mio, das sind 14% der Gesamtbevölkerung) in Deutschland. Deutschland ist in diesem Bereich tatsächlich noch ein Entwicklungsland - ähnlich wie andere europäische Länder, aber das macht die Situation nicht besser.

Diskutiert wurden auch die Gründe, warum eine Lese- und Schreibschwäche überhaupt entsteht. Diese Gründe wurden im Film nicht thematisiert. Sie sind individuell unterschiedlich (vgl. dazu auch mein Blogentry), aber es wurde u.a. erwähnt, dass Lese- und Schreibschwierigkeiten in der Grundschule schon nicht erkannt werden. Hier müssen gerade die Lehrer/innen noch besser informiert werden.

Es wurden noch viele Punkte angesprochen - und es zeigte sich bei den Betroffenen auch viel Frustration. Das macht mehr als deutlich, dass in Deutschland noch Einiges an Sensibilisierungsarbeit getan werden muss - hoffentlich kann der Film seinen Teil dazu beitragen...

Was niedrigschwellige Kurse so besonders spannend macht...

Während und nach meinem DaF/DaZ Studium habe ich verschiedene Kurse mit verschiedener Teilnehmeranzahl und verschiedenen Sprachständen unterrichtet. Nach meinem ersten Integrationskurs mit Alphabetisierung war mir klar, dass es besonders die niedrigschwelligen (Integrations-)Kurse mit lernungewohnten Teilnehmern/innen sind, die mir besonderen Spaß machen. Neulich habe ich mich gefragt, warum das eigentlich so ist. Und das ist dabei herausgekommen:
  1. Das Unterrichten in niedrigschwelligen Kursen gibt mir das Gefühl, wirklich einen Unterschied im Leben von Menschen zu machen - und zwar einen ganz fundamentalen Unterschied. Wer z.B. nicht ausreichend lesen und schreiben kann, kann nicht angemessen an der Gesellschaft teilhaben. Genauso ist es, wenn man in einem Land lebt, in dem man die Sprache nicht versteht. In anderen Kursen ist das anders: ob ein irischer Bankmitarbeiter nun Deutsch sprechen kann, oder nicht, wird dessen Lebensqualität nicht entscheidend beeinflussen. 
  2. Ich bin neugierig auf die Menschen, deren Leben so viel anders ist, als meines. Dabei wird es für mich immer wieder deutlich, dass die Kursteilnehmer/innen große Fähigkeiten und Kenntnisse in den verschiedensten Bereichen haben. Geringe Sprachkompetenzen sind kein Maß, an dem man einen Menschen messen darf. M., zum Beispiel, hat in El Salvador einen Bürgerkrieg überlebt, sie hat mit 15 ihr erstes Kind und mit 40 ihr letztes Kind bekommen, sie hat Heimat und Familie zurück gelassen – und sie hat trotzdem durchgehalten und sich eine große Lebenslust bewahrt. Sie ist eine großartige Köchin, Tagesmutter und Malerin, und sie ist nur ein Beispiel von vielen. Ich kann selbst so viel von den Kursteilnehmern/innen lernen.
  3. Es ist für mich eine besonders spannende Herausforderung, nicht ‚nur’ die Sprache so zu unterrichten, wie ich es selbst beim Erlernen einer Fremdsprache erlebt habe. Statt dessen kann ich in Bereiche vordringen, die für einen schriftsprachlichen Menschen so sehr schwer vorstellbar sind: Wie ist es, nie auf die Schule gegangen zu sein und daher weniger in Strukturen und Regelhaftigkeit zu denken?  
  4. Ich finde es auch interessant, beim „Schriftsprachentdeckungsprozess“ dabei zu sein und Aha-Erlebnisse mitzubekommen: „Ich bin so lange an diesem Schild vorbeigelaufen, jetzt weiß ich, was es bedeutet“. Für mich gibt es nichts Schöneres, als ein ehrliches „Ach so ist das, jetzt verstehe ich das endlich!“
Das alles mag idealistisch klingen, und soll nicht bedeuten, dass im niederschwelligen Kursalltag alles Sonnenschein ist. Lernerfolge gibt es durchaus, aber das Erlernen einer Sprache oder eines Schriftsprachsystems vollzieht sich sehr langsam - manchmal frustrierend langsam. 

Außerdem haben viele Lerner/innen schwere Geschichten durchgemacht, die sie teilweise in den Kursen verarbeiten. A., z.B., hat starkes Heimweh nach seiner Heimat in Samoa, M. weint bei einem Film über die Wiedervereinigung, weil sie sich an ihre eigenen Gewalterfahrungen in einem Bürgerkrieg erinnert. Die meisten bedrücken finanzielle, gesundheitliche, soziale Probleme (Schulden, Süchte, Streitigkeiten innerhalb der Familie), und es kann zu zwischenmenschlichen oder interkulturellen Auseinandersetzungen innerhalb des Kurses kommen. Allerdings sind letzlich auch das Lernanlässe und Teil der Integration, wenn man es so nennen will, und der individuellen Entwicklung des Lerners/in.

2. Berliner Sprachenforum

Die Sprachenmesse war am Samstag noch in vollem Gange, da kam auch schon die nächste Veranstaltung dazu: das Berliner Sprachenforum, eine ganztägige Veranstaltung mit Fachvortrag und drei Workshops. Für diejenigen Kollegen, die deutschlandweit angereist kamen, war das Sprachenforum zusammen mit der Expolingua sicherlich eine praktische Kombination. Die Veranstaltung war im lauschigen Jagdschloss Glienicke gelegen, so dass man beim Workshop schon mal von der hübschen hölzernen Wandvertäfelung abgelenkt werden konnte.

Aber wir waren ja nicht zum Vergnügen da, obwohl der einleitende Vortrag von Prof. Dr. Dieter Stein "Weltsprache Englisch heute - Status, Struktur, Norm" durchaus sehr unterhaltsam war. Das lag m.E. daran, dass Wissenschaft und Praxis hier wunderbar verbunden waren. Nach einem kurzen Exkurs in die Geschichte der englischen Sprache und deren Rollenwandel (von der Beeinflussten zur Beeinflusserin), kam auch schon der wichtigste Punkt des Vortrags, die Demystifizierung des britischen Englischs als das einzig wahre und korrekte Englisch. British English (BE) galt und gilt in Schulen und anderen Sprachkursen immer noch als DAS Englisch, was wir unseren Lernern vermitteln sollten. American English - wenn es denn unbedingt sein muss - wird auch noch toleriert, aber alles andere ist nicht korrekt.

Prof. Steins klare Haltung dazu: die Einteilung in gutes vs. schlechtes Englisch ist nicht mehr aktuell. In über 50 Staaten der Welt wird Englisch als offizielle Sprache gesprochen - und überall existiert die Sprache in einer regionalen Ausprägung, die sich z.B. auch als Signal der Unabhängigkeit und Andersheit bewusst von BE als dem kolonialen Englisch absetzt. Das bedeutet letzlich, dass die Entscheidung für eine Varietät des Englischen auch eine politische Aussage ist. Englisch transportiert ein "kulturelles Marschgepäck" - und BE ist oft assoziert mit Kolonialismus und den Gefühl der Überlegenheit und Arroganz. Dieses Bewusstsein müssen wir unseren Lernern auch vermitteln. In internationalen Geschäftsverhandlungen kann ein deutscher Akzent u.U. Missverständnisse und Animositäten verhindern und damit "besser" sein als received pronunciation.

Prof. Stein will aber nicht den Eindruck vermitteln, dass nun in der englischen Sprache wahllos alles möglich und erlaubt ist. Ganz im Gegenteil: in der Grammatik sollte man genau bleiben. Aber auch hier sind grammatische Formen möglich, die im BE nicht korrekt sind.

Danach kamen die Workshops; ich hatte mich für die Vorstellung des neuen DaZ-Alphabetisierungslehrwerks "Von A bis Z - Alphabetisierungskurs" (Klett) entschieden, das Alexis Feldmeier erstellt hat und das deswegen Qualität versprach. Viele Dinge haben mir gut gefallen - aber an dieser Stelle sei wieder einmal auf einen separaten, ausführlichen Blogeintrag verwiesen, den ich hoffentlich bald in Angriff nehmen werde.

In den folgenden Workshops ging es bei mir um die Prüfungen in den berufsbezogenen Kursen (telc) und den Einsatz des Lehrwerks "Aussichten" (Klett) in Integretionskursen. Bei den Workshops gab es viele Wahlmöglichkeiten, sowohl sprachspezifisch oder sprachübergreifend.

Anschließend gab es als Abendprogramm die Möglichkeit, bei einem Circle Dance mitzumachen - aber ich habe mich auf den Heimweg gemacht.